Obwohl sie fast gleich alt waren und beide am Ufer des Genfersees lebten, waren Alain Tanner und Jean-Luc Godard, die Mitte September innerhalb von zwei Tagen verstorben sind, nicht gerade enge Freunde. Trotzdem verbindet sie eine merkwürdige Parallele zwischen zwei filmhistorischen Entwicklungen, insbesondere des Schweizer Films. Nach seiner Rückkehr aus London, wo Alain Tanner zusammen mit Claude Goretta den bekannten Kurzfilm Nice Time (1957) verwirklichte, realisierte der Regisseur für Télévision suisse romande (TSR) einige Auftrags- und Dokumentarfilme. Während der 1960er-Jahre kämpfte er zusammen mit anderen (darunter Alexander J. Seiler in Zürich und Freddy Buache in Lausanne) dafür, dass der Bund die Filmschaffenden mit staatlichen Subventionen unterstützt. Das erste Filmgesetz, das 1962 verabschiedet wurde und 1963 in Kraft trat, förderte zunächst nur Filme mit dokumentarischem, kulturellem oder pädagogischem Anspruch – aber es war ein Anfang.
Dank des Erfolgs seiner Filme bei Kritikern und Publikum realisierte Tanner allmählich auch Filme ausserhalb der Schweiz und koproduzierte seine Projekte längere Zeit in Frankreich – wobei er seiner Heimat lange treu blieb – bevor er auch in Portugal, Irland, Italien und Spanien arbeitete. Seine 20 Spielfilme, die er von 1969 bis 2004 verwirklichte, ermöglichten es vielen Schweizer Schauspieler:innen und Techniker:innen, sich zu vernetzen, zu arbeiten und Karriere zu machen – zum Beispiel dem Tessiner Kameramann Renato Berta, der 1969 Tanners ersten Spielfilm, Charles mort ou vif, drehte und dem die Cinémathèque suisse kürzlich eine Hommage widmete. Oder dem Tontechniker Luc Yersin, der in diesem Film mit der Tonangel zu sehen ist. Oder dem Schauspieler Jean-Luc Bideau, der ebenfalls in diesem Film (an der Seite von Francis Reusser) seinen ersten Auftritt als Rettungssanitäter hatte, bevor er mit Tanner La Salamandre (1971) und Jonas qui aura 25 ans en l’an 2000 (1976) drehte.
Als Jean-Luc Godard 1977 mit Anne-Marie Miéville von Paris über Grenoble nach Rolle zog, erlebte der Neue Schweizer Film gerade einen Aufschwung und der Bund subventionierte (endlich!) auch Spielfilme. Godard realisierte daraufhin in der Schweiz als eine Art Neuanfang das wunderbare Werk Sauve qui peut (la vie) (1980). Unter den Schauspieler:innen und in der Filmcrew waren viele Schweizer, wie derselbe Renato Berta hinter der Kamera, der Tontechniker Luc Yersin, der Produzent Robert Boner und Schauspieler wie Roland Amstutz, Roger Jendly, Michel Cassagne und viele weitere.
Bei der Produktion des berühmten Kurzfilms Lettre à Freddy Buache, der zwei Jahre später über die Stadt Lausanne gedreht wurde, arbeiteten sowohl der Tontechniker von fast allen seinen folgenden Filmen, François Musy, als auch der Kameramann Jean-Bernard Menoud mit. Im Film sieht man sogar den jungen Gérard Ruey, damals noch Assistent, wie er mit einem Waadtländer Polizisten am Rande der Autobahn spricht. Ruey war auch in der Produktion von Passion (1982) involviert und produzierte später ein Dutzend Filme … von Alain Tanner. Obwohl Godard immer mehr als Autor auftrat und immer seltener auf Filmteams zurückgriff, blieb er einigen Schweizer:innen treu, wie der Produzentin Ruth Waldburger oder seinem engen Mitarbeiter und Produzenten Fabrice Aragno. Deshalb dürfen und müssen wir heute um diese beiden Künstler trauern, die über ihre Kunst hinaus einen grossen Einfluss auf den Schweizer Film – und das Filmschaffen überhaupt – ausgeübt haben.
Frédéric Maire, Direktor der Cinémathèque suisse
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Jean-Luc Godard bei den Dreharbeiten für seinen Film "Une femme est une femme" (1961)