Mit grosser Betroffenheit hat die Cinémathèque suisse vom Tod des Filmemachers Jean-Marie Straub am Sonntag, dem 20. November, erfahren. Er war eine aussergewöhnliche Persönlichkeit, Schöpfer eines zutiefst originellen Werks und pflegte eine enge Beziehung zu unserer Institution.
Jean-Marie Straub wurde am 8. Januar 1933 in Metz geboren. Er eignete sich sein Filmwissen an, indem er sich viele Filme ansah und bei Dreharbeiten von Astruc, Bresson, Gance und Renoir assistierte. Während des Algerienkriegs floh er aus Frankreich und fand in Deutschland Zuflucht. Dort operierte er 1963 bei Machorka-Muff zum ersten Mal als Regisseur und wurde später zu einer der bedeutendsten Figuren des Neuen Deutschen Films. Er überzeugte mit einem schlichten Stil, einer anspruchsvollen Inszenierung und einer strammen Schreibweise. Im November 1954 lernte Straub Danièle Huillet kennen. Sie wurden ein Paar und blieben durch ihr entschlossenes Denken, ihr unaufhörliches Hinterfragen, ihre Ablehnung von Moden und ihr Vertrauen in den Blick und die Intelligenz des Publikums in einer unerschütterlichen Gefährtenschaft vereint. In ihrer anspruchsvollen Vision des Filmschaffens erarbeiteten Jean-Marie Straub und Danièle Huillet ein grundlegend modernes Werk, das seinesgleichen sucht. Die Klarheit der Einstellungen, Klänge und Texte setzte eine neue Art der filmischen Gestaltung durch, die der Aufrichtigkeit von Diskurs und Form sehr nahe kommt.
Ich war gerade einmal 17 Jahre alt als Freddy Buache im Mehrzwecksaal des Lycée de Neuchâtel Machorka-Muff (1963) und Nicht versöhnt oder Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht (1965) zeigte. Die überraschende und mysteriöse Kinoerfahrung öffnete mir zum ersten Mal die Augen für ein ursprüngliches Filmschaffen, das absoluter war als alles zuvor. Die Arbeit von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet verfolgte ich während meiner gesamten Laufbahn als Filmliebhaber und insbesondere seit ich 2009 die Leitung der Cinémathèque suisse übernommen habe. Vom Tod Jean-Marie Straubs im Alter von 89 Jahren zu erfahren, macht mich daher sehr betroffen. Wir hatten ihn zu zahlreichen Gelegenheiten in unseren Archiven und Kinos, insbesondere im Capitole, empfangen.
Im Januar 2018, anlässlich seines 85. Geburtstags und des 70-jährigen Bestehens unserer Institution, war er gekommen, um die Weltpremiere seines neuesten Films, Gens du Lac, vorzustellen. Der Film spielt in Rolle am Genfersee, wo er mit Barbara Ulrich, seiner Frau und Produzentin, lebte. In den Monaten danach war Jean-Marie Straub zusammen mit Benoît Turquety, Professor an der Universität Lausanne, regelmässig Gastgeber in der Cinémathèque suisse im Rahmen des originellen Programms «Jean- Marie Straub: regards croisés» – einer Reihe von bedeutenden Filmen der Filmgeschichte, die er selbst ausgewählt hatte und mit einigen seiner Werke verglichen wurden. Im vergangenen Mai zeigten wir ausserdem zwei Filme des Duos Straub-Huillet: Operai, contadini (2001) im Rahmen der Retrospektive auf das Werk von Renato Berta, sowie Sicilia! (1999) im Rahmen des Zyklus «Freddy Buache, le passeur».
Den ehemaligen Direktor der Cinémathèque suisse und den Filmemacher verband eine lange und beständige Freundschaft. Freddy Buache sagte über Straub: «In einer unbeständigen Welt, die seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts noch mehr zum kulturellen Verfall neigt, verschwinden viele alte Denkmäler aus dem Gedächtnis, angefangen bei der Filmkunst. Aus diesem Blickwinkel, abseits von journalistischen und marktwirtschaftlichen Wertvorstellungen, in aller Heimlichkeit bis zum elektronischen Tod, wird Straub bereit sein, die 2001 von Pedro Costa gestellte Frage filmisch zu beantworten: ‹Où gît votre sourire enfoui?› Wo steckt Ihr verborgenes Lächeln?» Schon früh begeisterte sich Freddy für die Werke des Duos Straub-Huillet und kaufte Filmkopien, die er in der Schweiz vertrieb und regelmässig in den eigenen Kinos zeigte. Diese Tradition wurde von seinen Nachfolgern, Hervé Dumont und mir, fortgesetzt und rundet den Kern der Sammlung ab, der aus 40 Filmen besteht, die das Paar bei der Cinémathèque suisse hinterlegt hat.
In den letzten Jahren hat unsere Institution auch zur Digitalisierung und Restaurierung mehrerer ihrer Filme beigetragen. Einige davon werden von der Cinémathèque suisse in der Schweiz vertrieben. Nachdem in Frankreich und Deutschland eine ganze Reihe von Labors schliessen mussten, bewahren wir in unseren Räumlichkeiten nicht nur Kopien, sondern auch zahlreiche Negative auf, um die Erinnerung an eine Filmkunst, die für unsere soziale, politische und ästhetische Geschichte von entscheidender Bedeutung ist, so gut wie möglich zu erhalten.
Danke, Jean-Marie, für deine Grosszügigkeit und deinen scharfen Blick auf die Welt, der von grosser Aktualität ist. Wir werden dein Erbe hüten und es verbreiten.
Frédéric Maire, Frédéric Maire, Direktor der Cinémathèque suisse